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Elisabeth Faller

Cvetka und ich

Cvetka aus Gornj Grad schreibt mir zu Weihnachten, dass ihr eine Hüfte „zerbrochen“ ist, sie verwendet dieses Wort. Sie liegt im Krankenhaus in Celje, sie hatte einem alten Mann beim Holztragen geholfen und war dabei gestolpert. Wir telefonieren. Die Stimmen von Cvetka und mir weben sich ineinander wie zwei sich an einer Säule nach oben rankende Zweige eines Efeus. Cvetka, Theresia Bevc, ist meine Großcousine und hat in Laibach Kunst studiert.

Sie hat das Haus meines Großvaters gemalt, in dem sie heute mit ihrer Familie lebt. Ich betrachte die etwas schiefen Fenster, das Giebeldach, die einfache Architektur. Ein Bauernhaus, ein Handwerkshaus.

Das Sokatnik-Tal (mit Hacek) in Slowenien, in dem mein Großvater wohnte, ist nach der Familie benannt. Es waren seit Jahrhunderten Leinenweber gewesen, die in das Tal gekommen waren, sich dort niedergelassen hatten. Als mein Großvater als junger Mann aus diesem Haus heimlich nach Kärnten geflüchtet war, weil er nicht Pfarrer werden wollte, wie es die Familientradition vorsah, nahm er Geld mit von zu Hause, soviel, wie ihm sein Vater als Erbteil versprochen hatte.

Über meinem Bett hängt ein Werk von Cvetka. Es ist aus alten Leinenstoffen gefertigt, vielleicht hat auch mein Großvater an diesen Stoffen mitgewebt. Cvetka hat die Stoffe gefärbt, grün, für gefaltete Wege und Hügel, ein wenig weiss, ein oranger Wollstreifen in der Mitte appliziert. Nichts ist Zufall an diesem Bild, hat mir Cvetka erklärt, eine Seelenlandschaft. An einer Stelle ist sie transparent, ich könnte das Bild so aufhängen, dass man an dieser Stelle durch das Bild hindurchsehen kann. Hier könnte eine durchsichtige Sonne in der Landschaft stehen, die von links oben ins Bild scheint, in bläulicher Transparenz.

Ich träume von Fluchten. Ich flüchte durch den Wald, einen Fluss entlang, renne um mein Leben. Plötzlich ist der Lauf einer Pistole auf mich gerichtet. „Erbarmen“ rufe ich und wache in letzter Minute auf. Nicht nur ich träume solche Träume, meine Cousinen träumen ähnlich.

Vor einigen Jahren stand ich am Olympiaturm in München, das Restaurant im Turm drehte sich langsam. Im Vorraum, draussen am Gang, zeigt ein Hinweisschild die Richtungen der umliegenden Ortschaften an, die von oben sichtbar werden, ich lese den Namen Dachau und spüre leichte Übelkeit.

Mein Großvater hatte in Eisenkappel seine spätere Frau kennengelernt, dort war er geblieben, als Holzarbeiter. Er war neununddreißig Jahre alt gewesen, als sie ihn in Eisenkappel abgeholt hatten, im Remschenik-Graben. Seine Frau und die fünf kleinen Kinder hatten geschlafen, mitten in der Nacht kamen sie, um den Mann zu holen. Es war kurz vor Kriegsende, 1945. Sie durchwühlten die Betten der Kinder, die mit aufgerissenen Augen herumstanden, und suchten nach Waffen, doch es waren keine zu finden gewesen.

Sie banden meinem Großvater die Hände hinter dem Rücken zusammen. Als seine Frau fragte, ob sie ihm noch einen Kaffee kochen dürfe, wurde es ihr erlaubt. Ihr Mann sass mit gebundenen Händen am Sessel, seine Frau flösste ihm den Kaffee ein, die Kinder sahen zu. Als mein Großvater abgeführt wurde, drehte er sich noch einmal um, ein endgültiger Abschied, diesen Blick haben seine Kinder bis heute nicht vergessen.

Aus dem Durchgangslager in Klagenfurt konnte er flüchten und wurde auf der Flucht gefasst. Andere Kärntner Slowenen, die mit ihm im Lager waren, erkannten ihn nach seiner Rückkehr nicht mehr. Man hatte ihn übel zugerichtet. Es hieß, er hätte keine Haut mehr an den Händen gehabt. Er wurde gemeinsam mit anderen Kärntner Slowenen nach Dachau gebracht.

Mein Großvater starb in Dachau zwei Tage vor der Befreiung des Konzentrationslagers, sein Körper muss dort irgendwo unter vielen anderen Körpern in einer Grube vergraben worden sein.

Durch die bläuliche Sonne des Bildes in meinem Schlafzimmer hindurch betrachte ich Hände ohne Haut. Ich telefoniere mit Cvetka, meiner Cousine mit der zerbrochenen Hüfte in Gornj Grad, unsere beiden Stimmen sind wie ein gemeinsames Lied. Man muss das Schöne sehen im Leben, sagt sie und ich denke an die Seelenlandschaft aus gefalteten Leinenstoffen über meinem Bett.

Gmünd, 20. 1. 2007
Elisabeth Faller

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