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Birgit Sommer

"Am späten Abend in der Welt der Dinge" von Karla Marx-May Notizen am Samstag, 19. Februar 2011 um 23:52

Der Schlüssel freut sich, endlich wieder sein Schloß gefunden zu haben, aber die Tür dehnt sich nur widerwillig nach innen. Die Wohnung schweigt mich an, als ahnte sie etwas. Dabei war ich heute sehr freundlich zu ihr. Der Tisch gähnt mir leer entgegen: Willste was? Doch wohl nicht von mir! - Die Stühle drehen sich unauffällig an den Tisch und rücken so nah heran, dass ihre Lehnen fast die Tischplatte berühren. Mein Mantel will gar nicht von den Schultern, muss aber jetzt in die Garderobe. Die Bügel klacken aneinander. Leere Bildschirme spiegeln den stummen Vorwurf. Habe verstanden. Werde ganz leise sein. Gehöre doch hierher, wie ihr, oder etwa nicht? Entscheide mich für einen sparsamen Gesichtsausdruck... Rücksichtsvoll muss ich heute Abend sein, hier rechnete alles mit sturmfreier Bude - und dann komme ich eine Stunde zu früh nach Hause! Um das Parkett mit meinem verfrühten Auftritt nicht zu irritieren, ziehe ich vorsichtig die Schuhe aus und tapse barfuss, auch wenn es dafür zu kalt ist. Ob ich vielleicht? - Danke, das Sofa verhält sich neutral... Auf den leeren Blättern auf dem Schreibtisch verknäueln sich Gedanken. Ich googele durch die Erinnerungen der vergangenen Wochen, klicke Fetzen davon an und schaue staunend, was da alles passiert ist. Googlehirnpuzzle, schwer zu ordnen, wer weiß, was noch auf irgendeinem Neuronenserver lagert. Da krispelt es hinter der verschlossenen Tür des Arbeitszimmers. Das heißt so, weil da die Arbeit liegt. Eine Rauminstallation nichtgetaner Arbeit. Gegenüber im Zimmer kuschelt sich die Wäsche im Korb aneinander - bloß nichts machen, im Schrank nachher sind sie wieder getrennt, und wer will schon getrennt sein. Das Bad lasse ich links liegen oder stehen und stoße sanft die Schlafzimmertür auf. Scheint alles okay. Nur die eine Seite vom Bett, die seufzt. Ich habe es genau gehört. "Kann ich nicht ändern", flüstere ich. Da sinkt das Kissen in sich zusammen. Und ein Buch fällt vom Stapel und verschlägt die Seite, auf der ich stehen geblieben bin. Du willst wohl nicht gelesen werden, heute...
Ich gehe barfuß zurück, in die Küche. Kühl thront die energiesparende Kühlgefrierkombi über den Einbauschränken. IHR Reich. Ich öffne die Tür und bin erleichtert: Im Kühlschrank brennt noch Licht. Und auch eine Flasche Weißwein leuchtet mir entgegen. Wenn jetzt noch der Flaschenöffner mitspielt, habe ich eine Chance, wenigstens allen Dingen einmal zuzuprosten. Manchmal ziehen keine Sterne über das Zuhause hinweg. Und sich dann an die Stille zu gewöhnen, braucht ein bisschen. Ich nehme den ersten Schluck. Da flackert etwas am Rand des Sehvermögens. Die Kerze am Fenster hat sich meiner erbarmt. Danke! Zuhause.

cut up zum 70. von Helmut Ritter

hea uwah ta
eslän kopro hem
ältni urge ürg
ichte erma zen.

lzbur irol tsa
erös ohlfah orarl
deru rekä ünst
ngdram edi tival.

nf löss ribü -
ts leidos bwär -
nzfes kop ekär?
skurs ärn erös!
ufha innen summ!
iral atike me.
erän, erän.


Zwischen den Fronten
(Auszug)

Gleich zwei Schützengräben und Frontlinien ziehen sich durch's Elternhaus. Unten im Erdgeschoss kämpft der Großvater im Schlamm vor Verdun. Er hat ein Pferd, ein Gewehr, ein Messer und ein Bajonett am Gewehr, damit kann er Franzosen aufspießen, bevor er selbst aufgespießt wird. Das Kind, seine jüngste Enkelin, stellt sich seine Uniform sehr kratzig vor. Sie kennt das eine Foto von ihm auf dem Pferd. Er sieht so jung aus in Uniform, die blauen Augen, der flotte Schnauzbart. Ein schlanker, ernster Mann. Er liest gern Westernromane für ein paar Groschen in den Feuerpausen. Dann gönnt er sich auch mal einen Jägermeister oder ein Malzbonbon gegen den Husten. Opa raucht Fehlfarben. Er ist ein kleiner knotiger Mann mit stahlblauen Augen geworden. Stahlhelm. IG Metall. Weg von der dörflichen Schmiede, in die Fabrik der Großstadt. Nach Verdun kommt der Sohn zur Welt. Im Jahr der großen Wirtschaftskrise. Der soll dann hart wie Kruppstahl werden, auch wenn er in der nahegelegenen Großstadt Schlosser lernen wird. Alle waren Schmiede, ihres Glückes Schmiede, der zukünftige Vater des Kindes wird Schlosser werden. Die Familie riecht nach Feuer und heißem Eisen, nach Metallspänen und Schweißnähten, nach Schrauben und Muttern in Maschinenöl.

Im Erdgeschoss beim Großvater geht es Mann gegen Mann, rattenzernagt, Ungeziefer am Sack, ewig nichts zu fressen gehabt. Regen, Regen, Regen. Der junge Mann mit dem hübschen Gesicht kommt versteinert zurück nach Hause. Fast ganz. Nur ein Teil eines Fingers ist da geblieben. Da in Verdun. Er weiß nicht, dass später seine Urenkelin zusammen mit seiner jüngsten Enkelin die Blicke über die Schlachtfelder schweifen lassen und sich die Knochen im Beinhaus von Douaumont anschauen werden. Ob sein Fingerknochen dabei ist, ist nicht zu sagen. Die Kriegserinnerung des Großvaters ist eine Lücke, eine glatt verwachsene Fehlstelle an der vorher vollständigen Hand. Auf der Chaiselongue des Großvaters im Erdgeschoss des Elternhauses lernt die Enkelin Begriffe wie Tornister, Granatsplitter, Artillerie, Geschütz, Graben, Hundemarke. Und Wörter wie Chaiselongue und Trottoir.

Die Treppe ins erste Stockwerk ist nicht nur eine Zeitmaschine. In zwei Biegungen und mit sechzehn Stufen führt sie das Kind über Berlin nach Prindisi und El Alamain, ein Name wie aus Tausendundeiner Nacht. Hier oben hört das Kind auf den Holzdielen das Rauschen des Mittelmeeres, sieht, wie die Palmen im Wind sich wiegen, wie der Sand in die Augen geweht wird. Das Kind riecht Salz und Schweiß. Es fährt neben seinem jungen Vater unglaublich lange mit vielen anderen jungen Männern nach Süden mit der Eisenbahn. Der Vater merkt nicht, dass er ein Kind neben sich hat. Er ist ja noch nicht Vater. Der Vater heißt noch Hans, ist erst siebzehn und trägt die leichte Uniform des Afrika-Korps. Der Krieg ist eine Reise an märchenhafte Orte. Er bringt den Vater bis nach Amerika, nach Texas.

Ausgerechnet dahin, wo der Großvater sich in Groschenromanen hin sehnt und liest, nachmittags auf der Chaiselongue, in seiner Küche, unter dem Regal, auf dem einmal ein Radio gestanden haben muss/soll - gestanden hat – die Erinnerung ist ein vermintes Nebelfeld.

Im ersten Stock wird der Nachthimmel über dem Meer taghell und die Fähren werden aus der Luft beschossen. Alle sinken. Das Meer brennt. Trümmer fliegen. Menschen fliegen. Menschenteile fliegen. Dazu laute Explosionen, Schreie, Prasseln. Auch der Kindsvater, der da noch nicht weiß, dass er mal eines Kindes Vater werden wird, fliegt. Über Bord ins Meer. Kein Trümmerteil zersägt seinen Schädel. Kein Feuer verbrennt seine Haut. Keine Bordwand zieht ihn mit in die Tiefe oder stiehlt sich sein Bein. Er ist und bleibt bei vollem Bewusstsein und schafft es, sich die schweren Lederstiefel von den Füßen zu streifen. Es bleiben wohl Hose und Hemd am Hans. Am 17jährigen Schwimmer im Teich. Im Mittelmeer.
Und Hans schwimmt. Und schwimmt. Und schwimmt. Um ihn herum wird es mit den Stunden, die vergehen, immer stiller. Die Verletzten ertrinken, das Schreien und Jammern verstummt. Das Feuer verglimmt. Das Meer wird ruhig. Der Himmel wird wieder dunkel. Hans schwimmt.
Er ist 17 Jahre alt und hat im Weiher, zuhause, schwimmen gelernt. Ein Mädchen aus der kleinen Stadt ist in dem Weiher einmal ertrunken, das erzählt er später seiner Tochter. Pass auf. Da haben sie das Wasser abgelassen, bis es den Männern nur noch bis zur Hüfte reichte. Und die sind Arm in Arm durch den Weiher gewatet, bis sich die kleine graue Leiche in den Armen und Beinen der Männer verfing. Das Grab zeigt der Vater ebenfalls. Das Kind mag das Grab und mag es auch wieder nicht, es hat Angst davor, dass noch mehr Geister kommen, vor allem in dem Jahr, in dem es genauso alt ist, wie das ertrunkene Mädchen einmal war.

Wenn Hans im Mittelmeer müde wird, dreht er sich auf den Rücken und atmet ganz ruhig. So geht er nicht unter und spart seine Kraft. Im ersten Stockwerk seines Elternhauses lernt das Kind die Überlebenslektion in Sachen Ausdauer. Hans schwimmt und betet das Vaterunser. Er ist nicht religiös. Jetzt vielleicht aber glaubt er. Das Beten hilft. Im Morgengrauen werden die Überlebenden des Angriffs aus dem Wasser gefischt. Es sind wenige. Sie werden nach Afrika gebracht und müssen warten, bis sie eingekleidet werden, um dann endlich richtig in den Krieg zu ziehen. Im Wüstensand sind die Rückenschwimmkünste von Hans nicht nützlich.

Im ersten Stockwerk seines Elternhauses wird vor dem Kind der Krieg wie ein großer Plan skizziert. Ganze Kontinente breiten sich aus zwischen Flur, Küche, Esszimmer, Wohnzimmer und Schlafzimmer. Im Badezimmer schwappt das Meer. Angenehm warm am Samstag, Badetag, da wird im Boiler unentwegt mit Strom das Wasser warm gemacht. Das lange Haar des Kindes schwimmt wie Wasserpflanzen im Meer. Es übt Rückenschwimmen, das möchte es gern so gut können wie der Vater.
1975 wird es aus dem ersten Stockwerk des Elternhauses herunterkommen, an der berittenen Artillerie mit der Stumpenzigarre im Mund, am Großvater im Erdgeschoss vorbei, sich mit seinen Eltern in einen gebrauchten, aber frisch polierten Ford setzen, in einen Ort mit merkwürdigem Namen fahren und dort in einem Hallenbad schwimmen lernen. Im Sommer wird das nicht-mehr-ganz-Kind-Kind seinen Frei- und seinen Fahrtenschwimmer machen. Nun braucht es den Delphin nicht mehr.
Bis dahin trägt Vater-Flipper es durch das Becken, weil es noch nicht schwimmen kann. Vater-Flipper kann toll tauchen und ewige Zeiten Rückenschwimmen machen und dabei mit den Zehen winken. Das Kind sieht vom Beckenrand aus in einem längs gestreiften Bademantel und mit rotweißer Badekappe auf dem Kopf zu, kneift leicht die Augen zusammen wie immer und sieht einen lustigen, glücklichen Mann im Wasser. Das Kind weiß noch nicht, dass es schlechte Augen hat und gar nicht gut sehen kann. Aber der glückliche Vater im Wasser, den es jedenfalls zu sehen glaubt, der macht auch das Kind froh und es hofft, bibbernd im Bademantel, auf Pommes oder was anderes leckeres nach dem Schwimmbadbesuch.

Manchmal toben Wüstenstürme im ersten Stock. Vaters Einheit ist unter Beschuss. Du kannst die Hand vor Augen nicht mehr sehen. Vater liegt auf dem Sofa und schirmt seine Augen mit der Hand ab. Die andere Hand liegt auf seinem Herzen. Er wirkt gequält, hat Schmerzen. In der Küche fegt die Mutter. Kehren heißt das bei dieser Familie. Sie kehrt mit dem Besen und kommt gegen den Sandsturm nicht an, durch alle Ritzen kommt der Sahara-Sand und es weht immer weiter. Vater stöhnt. Mutter schmeißt den Besen hin. Sandkuchen. Sandkasten. Schlangen und Skorpione im Sand. Riesige Kakteen. Und vor allem Minen. Die Wüste ist ein deutsches Minenfeld. Man kann sie nicht einfach so rückwärts durchwandern. Die Oase ist schön. Dort kann man sich erfrischen und bekommt vom Araber Zigaretten zu rauchen. Du Aleman, kiffkiff...

Das Kind bekommt Himbeersaft mit kaltem Wasser aus dem Hahn. Der Mutter tropft der Schweiß von der Stirn über die Nase auf den Tisch, wo sie sich aufgestützt hält. Der Vater stöhnt. Eben gerade heulen die Sirenen, schon wieder Fliegeralarm. Das ist zuviel für die Frau. Viel zu viel. Sie schmeißt den Besen in die Ecke, schreit und packt sich den nächstbesten zum Prügeln. Irgendeinen Grund findet der Denkapparat immer in Sekundenschnelle, die Synapsen schnappen nacheinander, die Neuronen feuern und hören irgendeinen bösen Zauberspruch, der eine Untat ahndet, die das Kind begangen haben könnte, und schon kriecht das Kind durch das fremde Minenfeld, das eben noch gar nicht da war und es donnern die Detonationen um es herum. Ohne Warnung wird scharf geschossen und das Kind ist jetzt der Feind, den es zu vernichten gilt. Es herrscht Waffenungleichheit. Das kleine Mädchen wird überrannt. Mit Kochlöffeln und Kehrblech, mit Besen und Teppichklopfern überrannt. Keine Deckung, nirgends. Offenes Gelände, diese weite Wüste. Funksprüche zu den vermeintlich alliierten großen Brüdern gehen ins Leere. Ein anderes Mal lässt die Mutter von dem Kind ab, als Vater von der Arbeit kommt. Das Kind sieht sie von unten, die Hand mit dem Kochlöffel hoch erhoben, das Gesicht verzerrt, erhitzt. Das Kind liegt zusammengekrümmt in der Ecke vor dem Besenschrank und unter dem Geschirrtuchhalter. Es hält sich die Arme vors Gesicht und sieht die Mutter nur durch die Arme hindurch. Eine Hand hält plötzlich Mutters Arm im Lauf auf. Das Kind meint zu hören, wie da einer was sagt mit scharfer Stimme. Das Kind meint zu sehen, wie die Mutter weint. Das Kind meint zu hören, wie es hinaus geschickt wird. - Geh, wasch Dich, wie siehst Du denn aus, total verrotzt.

Das Kind flieht in die Oase und dreht den Schlüssel hinter sich im Schloss. Hier sieht es aus wie in einem Badezimmer der späten 50er Jahre. Erstaunlich.

(Birgit Sommer)
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